Spitzbergen Expedition

Bericht der „Svalbard Sea & Ice“ Kajak Expedition 2018

„Ein Wal!“ ruft Klaus aufgeregt angesichts des großen Tieres, das eben nur wenige Meter vor seinem Kajak auftaucht, schnaufend ausatmet und dann gleich wieder verschwindet.

im äußerern Isfjord

Klaus war als erster um die spitze Landzunge gepaddelt, die nun auch Markus, Karsten und ich passierten. „Wo ist er hin?“ rufe ich. Markus hatte den schwarzen Schatten auch gesehen und meinte aufgrund der weißen Punkte auf der Haut und „irgendetwas zahnartigem“ einen Narwal erkannt zu haben. Wir zücken die Kameras, um bei einem erneuten Auftauchen bereit für einen Schnappschuss zu sein. Doch daraus wird nichts. Nach nur wenigen Sekunden ist er wieder da und diesmal können wir alle sehen, mit wem wir es hier zu tun haben. Blitzartig kommt Leben in unsere gespannte Erwartung: „Ans Ufer!“, brüllt Markus. So schnell wir können sprinten wir die wenigen Meter zum Kiesstrand und zerren hektisch unsere Kajaks an Land. Wir blicken aufs Meer vor uns und können nun beobachten, wie sich ein schwerer Körper elegant dem Strand nähert, anlandet und uns dann kleine, rot unterlaufene Augen fixieren, die in einem massigen Kopf mit gut 70cm langen Stoßzähnen liegen.

arktische „Antje“

Walrosse – denn um ein solches handelte es sich – sind genau die Tiere, vor denen wir hier auf Spitzbergen noch mehr Respekt haben als vor Eisbären. Anders als Bären sind die an Land so plumpen Säuger im Wasser höchst agil und bekannt dafür, sich kleineren Booten immer wieder neugierig zu nähern und diese sogar anzugreifen. Wir haben uns übrigens genau in sein Wohnzimmer verkrümelt, denn im Kies können wir etliche Kuhlen großer Leiber sehen. Offenbar waren gerade alle seine Kumpels auf der Jagd.

Eine Woche vorher:

Blick auf Prins-Karl Forland (Entfernung 25 km!)

Stück für Stück sammeln wir eine viertel Tonne Gepäckstücke vom Band des kleinen Flughafens von Longyearbyen. Leider fehlt eine Tasche und der nächste „Norwegian“ Flieger kommt erst in drei Tagen, also nach unserem geplanten Starttermin! Zum Glück sind weder Paddelkleidung noch ein Zelt darin sondern nur Verpflegung. So wird die Einkaufsliste für den örtlichen Supermarkt, bei dem wir bereits 10kg Schokolade und 24kg Spaghetti vorbestellt haben, eben um einiges länger. Unsere Kajaks dagegen sind alle wohlbehalten angekommen. Wir haben sie drei Wochen zuvor im Eemshaven verschifft und können sie nun am Pier des Spediteurs Bring.no abholen und die wenigen Kilometer zum Zeltplatz überführen.

Nach zwei Tagen hektischer Betriebsamkeit brechen wir Ende Juli, abends um 20 Uhr vom Ufer des Zeltplatzes auf: Bei tagheller Mitternachtssonne geht es 25 km quer über den für seine plötzlich aufkommenden Winde berüchtigten Eisfjord.

Aber was machen wir eigentlich auf diesem arktischen Archipel, der ziemlich genau auf halbem Wege zwischen Norwegens Nordkap und dem Nordpol liegt?

Route, 600km

Wir haben uns vorgenommen den Nordwestteil von Spitsbergen, der Hauptinsel des auf Norwegisch Svalbard genannten Archipels, mit Seekajaks zu umrunden. Das sind etwa 600 km Strecke – auf dem Wasser. Denn was diese Tour für uns besonders interessant macht, ist neben der Exponiertheit der Kajaktour an der von Fjorden und Gletschern gesäumten wilden Westküste und der Passage durch den Wijdefjord, dem längsten Fjord Svalbards, die Tatsache, dass wir mit unseren Kajaks eine Halbinsel umrunden wollen.

Gletscherpassage (2 Tage)

Dies bedeutet, dass uns auf dem Weg zurück zum Startpunkt Longyearbyen der an dieser Stelle etwa 25 km breite und 450m hohe Mittag-Leffler Gletscher im Weg liegen wird. Anders als die wenigen Teams, die vor uns auf dieser Strecke unterwegs waren, wollen wir unsere Kajaks jedoch nicht um den Gletscher herum durch ein trockenes, 30km langes Tal tragen.

Den Plan zu dieser Tour hatte ich schon viele Jahre im Kopf, wusste jedoch nicht, wie die Gletscherpassage am besten zu bewältigen sei. Die oben erwähnte lange Tragepassage erschien mir zu beschwerlich. Es musste doch eine bessere Möglichkeit geben!

Ein Kajak ist ein Schlitten ist ein Kajak!

Im Jahre 2016 kam ich anlässlich einer Überquerung des Grönländischen Inlandeises mit einem für das raue Eis des Nordpolarmeeres entwickelten, sehr robusten Schlitten in Kontakt. Er war aus hochfestem Polyethylen, wurde vom renommierten Kajakbauer Prijon in kleiner Stückzahl gefertigt und hatte Ähnlichkeit mit einem im Cockpitbereich ausgesägten Topolino Kajak.

Da machte es bei mir Klick: Wenn ein Schlitten im Grunde ein Kajak war, dann konnte ein Kajak doch auch ein Schlitten sein! Damit war die Idee für diese Expedition geboren. Anstelle von GFK Kajaks könnte man robuste PE Kajaks einsetzen und diese dann einfach mit allem Gepäck darin, wie einen Pulka Schlitten, über den Gletscher ziehen.

Doch zunächst galt es, ein Team zusammen zu stellen, das sich dieser Aufgabe stellen wollte. Markus Ziebell ist wohl der Paddler mit der größten Arktis Erfahrung in Deutschland. Darüber hinaus besitzt er einen kaum kaputt zu kriegenden Humor. Mir lag daher sehr viel daran, ihn ins Boot zu holen und zum Glück war er schnell für den Plan zu begeistern. Klaus Weyhing aus Emden hat viele Touren mit Markus auf der Nordsee gemacht und eine Reise im hohen Norden war schon lange sein Traum. Erst gut ein halbes Jahr vor dem Start stieß Karsten Hübener aus Bremen zum Team.

vor der Abreise, mit einer viertel Tonne Gepäck

Karsten hat langjährige Outdoor- und Kajakerfahrung und ist bereits vor 30 Jahren einmal zum äußersten Nordosten Svalbards gepaddelt.

Ist der Begriff „Expedition“ für eine Reise wie die unsrige angebracht?

„Expedition“ bedeutet zunächst einmal „Losmachen“ und wird im Allgemeinen für Entdeckungs- oder Forschungsreisen in entlegene oder unerschlossene Regionen verwendet. Nun muss Spitsbergen weder noch entdeckt werden, noch haben uns wissenschaftliche Motive zu dieser Reise bewegt.

Dass unser Reiseziel entlegen und unerschlossen ist, trifft schon eher zu.

Für mich ist für eine solche Reise, da ja viele Monate der Planung erfordert, auch  eine „sinnstiftende“ Idee wichtig, die eine Faszination auf die Teilnehmer ausübt, ihre Motivation hoch hält und vielleicht auch Dritte zu interessieren vermag. Das kann z.B. ein historischer Bezug, eine besondere Routenwahl, eine ungewöhnliche Art der Fortbewegung oder auch ein sportlicher Reiz sein. Bei dieser Reise kommen mehrere der aufgeführten Aspekte zusammen.

Spaltenquerung von der spannenderen Sorte

Rein praktisch bedeutet eine Expedition, dass wir auf der Route, außer im Notfall, auf keinerlei Hilfe von außen rechnen können. Die komplette Ausrüstung für mehrere Wochen muss von Anfang an mitgeführt oder in Depots voraus geschickt werden. Dazu kommt, dass man in wenig oder kaum begangenen oder befahrenen Gebieten unterwegs ist. Nach allen verfügbaren Informationen sollte die Tour topografisch zwar möglich sein. Für ihre tatsächliche Durchführbarkeit gibt es aber auch bei sorgfältiger vorheriger Planung und persönlichem Training keine Gewähr. Das Risiko zu scheitern oder den Plan ändern zu müssen reist stets mit. Touren im Eis sind dabei besonders schwer einschätzbar, da sich ein und dieselbe Wegstrecke zu unterschiedlichen Jahreszeiten völlig anders darstellen kann. Ein Gletscher, der z.B. im Frühjahr eben und leicht passierbar ist, da Schnee die Unebenheiten auffüllt, kann im Herbst völlig zerrissen und von Schmelzwasserflüssen durchzogen sein.

So stellte in unserem Fall die Gletscherquerung den größten Unsicherheitsfaktor dar. Stürme während auf Paddelstrecke kann man an Land aussitzen, aber was tun, wenn der Gletscher diesen Sommer zu unwegsam für eine Passage ist?

Ich hatte im Vorfeld Kontakt zum Norwegischen Polarinstitut und mehreren Wissenschaftlern und Guides, die den Gletscher aus eigener Anschauung kannten. Alle waren der Meinung, dass eine Querung bei richtiger Routenwahl kein Problem sein sollte. Nur waren die dort alle nicht mit 70 kg schweren und 5 Meter langen Kajaks unterwegs gewesen.

Auf dieser Reise gab es aber noch eine weitere Unwägbarkeit.

die Meisten sind harmlos, aber man weiß es halt nicht vorher 😉

„SIGNALPISTOLE?“ rufe ich, als plötzlich nur 50 Meter vor uns ein mächtiger Eisbär hinter einem Kieswall auftaucht. Eine Sekunde sind wir wie versteinert. Nein, die hatte ausnahmsweise keiner dabei.

Da der Strand völlig flach und übersichtlich zu sein schien und wir nur eine kurze Pause dicht bei den Booten einlegen wollten, hatten wir den Kapitalfehler begangen und unsere verpflichtend mitzuführenden Waffen alle beim Boot gelassen. Ich hetze zu meinem Kajak zurück und reiße das auf dem Vorschiff befestigte Gewehr aus seinem Futteral. Zum Glück hatte sich der Bär aber ebenso erschrocken wie wir und sich bereits in die Richtung zurückgezogen, aus der er gekommen war. Als er kurz darauf erneut umdreht und sich wieder nähert sitzen wir bereits wieder im Kajak und können ihn aus sicherer Entfernung am Strand entlang wandern und nach uns wittern sehen.

Auf Spitzbergen gibt es im Sommer geschätzte 3000 Eisbären. Das sind mehr als Menschen auf der Insel leben und man muss stets und überall mit ihnen rechnen. Zum Schutz vor den Bären haben wir zuhause schießen geübt und vor Ort alte Gewehre aus deutschen Wehrmachtsbeständen geliehen. Doch einen Eisbären zu erschießen darf nur die allerletzte Lösung sein. Jede Nacht halten wir deshalb abwechselnd Wache, um einen sich nähernden Bären bereits frühzeitig bemerken und mit einem lauten Schreckschuss vertreiben zu können. Zur zusätzlichen Sicherheit spannen wir um unsere Zelte eine Leine, bei deren Berührung ein lauter Alarm ausgelöst wird – für den Fall, dass die Wache einschläft.

Unser Tagesrhythmus wird nicht wie bei Touren weiter südlich durch die Sonne vorgegeben. Diese steht jetzt Anfang August um Mitternacht nämlich fast noch so hoch am Himmel wie am Mittag. Wir richten uns allein nach Wind und Wetter. Oft starten wir abends, paddeln bis in die tiefen Nachtstunden, kochen und kriechen morgens in den Schlafsack, um bis in den Nachmittag zu schlafen. Entgegen unseren Befürchtungen haben wir bei der Eisbärwache nicht einmal mit Müdigkeit zu kämpfen: Auf Grund des Lichtes ist es gar kein Problem, wach zu bleiben und Tagebuch zu schreiben oder den Wetterbericht abzurufen, den Christian Dingenotto uns jeden Tag auf unser Satellitentelefon schickt. Wenn genügend Treibholz vorhanden ist, was oft der Fall ist, unterhalten wir während der Nacht auch ein gemütliches und wärmendes Feuerchen.

das Unterhalten des Feuers macht die „Nachtwache“ kurzweiliger

 

Völlig ohne Scheu lassen uns die Seehunde bis auf einen Meter heran

Kurz nach der ersten Eisbärsichtung auf dieser Reise – es ist eine Bärin mit zwei Jungen – erreichen wir nach einer Woche die einzige bewohnte Siedlung auf unserer Route, Ny Ålesund. Hier leben ca. 40 Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern. Im Sommer kommen tagsüber dann noch einmal mehrere Dutzend so genannte „Expeditions-Kreuzfahrer“ dazu. Diese fallen für 1 – 2 Stunden mit ihren roten Parkas in die Ortschaft ein, schreiben Postkarten, die sie im nördlichsten Postamt der Erde abstempeln lassen, und sind dann auch schon wieder weg, auf dem Weg zum nächsten Gletscher, vor dem der Steward Eiswürfel für die Cocktails aus dem Wasser fischt.

Markus klagt bereits seit zwei Tagen zunehmend über Schwäche. In Ny Ålesund können wir eine Nacht in einer Hütte schlafen und dort bekommt er starken Schüttelfrost. Wir schleppen den Kameraden, den wir bereits mit Antibiotika aus der Reiseapotheke behandeln, in die Ortschaft. Dort gibt es keinen Arzt, aber immerhin Beate, eine sympathische Krankenschwester. Sie bestätigt, was wir vermuten: Markus hat sich aus der Heimat eine handfeste bakterielle Infektion mitgebracht. Die Chance, dass sich sein Zustand kurzfristig verbessert, sei gering.

Wir lassen Markus über Nacht in der Krankenstation zurück und hoffen, dass seine robuste Natur die Infektion doch unter Kontrolle bringt. Leider ist das nicht der Fall. Am nächsten Tag hat sich Markus’ Zustand weiter verschlechtert und wir beschließen gemeinsam, dass er von hier aus in zwei Tagen das Schiff zurück nach Longyearbyen nehmen wird. Bei allem Pech für Markus haben wir großes Glück, dass uns die Krankheit hier und nicht irgendwo in der Wildnis ereilt hat.

Schweren Herzens sortieren wir ein Viertel des Proviants sowie eines der beiden Zelte aus, winken dann am nächsten Tag unserem Kameraden Lebewohl und machen uns auf die Weiterfahrt nach Norden.

Smeerenburgfjord

Svalbard ist Altnordisch und bedeutet „Land der kalten Küste“ und kalt kann man es wohl nennen. Die durchschnittliche Temperatur im wärmsten Monat August, in dem wir unterwegs sind, liegt bei ca. 4 °C. Am Fuße der vielen Gletscher, die in fast jedem Tal liegen, ist es besonders kalt. Die über dem Gletschereis talwärts fließende kalte Luft trifft jedoch auf relativ warmes Wasser. Der Golfstrom ist hier zwar schon stark abgekühlt, sorgt aber dafür, dass Svalbard nicht ganzjährig vom Packeis umschlossen ist, wie in ähnlicher Breite etwa Nordgrönland.

Dieses Temperaturgefälle ist der Grund dafür, dass es an den Küsten sehr oft neblig ist. Der Nebel hat dabei aber die zuvorkommende Eigenschaft, erst in einiger Höhe zu beginnen und die Berge einzuhüllen, die tieferen Luftschichten über dem wärmeren Meer aber weitgehend frei zu lassen.

Heute haben wir eine besonders wilde und ausgesetzte Passage vor uns: Auf einer Länge von 45 km reihen sich sieben Gletscher aneinander, die jeweils aus engen steilen Tälern direkt ins Meer kalben. Die See geht bei einem Vierer Wind bis zu einen Meter hoch und der Himmel ist bleigrau. Dichter Nebel verhüllt die senkrechten Bergflanken zwischen den Gletschern und weit oben über unseren Köpfen hören wir das Kreischen hunderter Möwen, die um die Felstürme ihrer Kolonien kreisen.

Abends paddeln wir durch eine wenige Meter breite Einfahrt in eine spektakuläre, von senkrechten Felswänden und einem Gletscher eingeschlossene Lagune, die Hamburgbukta. Nach kurzer Suche finden wir dort eine hübsche Wiese für unser Zelt. Da es in Spitzbergen kein Gras gibt, haben wir unsere Ansprüche an einen Zeltplatz reduziert: Eine „Wiese“ ist für uns ein Platz, an dem der Kies zumindest feiner als faustgroß und einigermaßen eben ist. Die düstere Stimmung und die eindrucksvolle Kulisse lässt uns diese Etappe wohl für immer als den „Herr der Ringe Tag“ in Erinnerung behalten.

Andrées Startplatz

Am nächsten Tag erreichen wir die Däneninsel, einen geschichtsträchtigen Ort. Ihren Namen bekam sie durch Dänische Walfänger, aber berühmt wurde sie, weil die Insel sehr viel flacher als das gegenüber liegende, alpin wirkende Festland ist und sich daher für Flugexpeditionen zum Nordpol anbot. Von hier startete der unglückliche Schwede August Andrée mit seinem Ballon, der nach kurzer Zeit vereiste und abstürzte. Der Amerikaner Wellmann versuchte es über mehrere Jahre vergeblich mit Luftschiffen. Auch die Fram, das Schiff Nansens, warf hier ihren Anker auf dem Rückweg von ihrer Poldrift. Die Ruinen von Virgohamna dürfen nicht betreten werden, aber wir finden Unterkunft in einer kleinen Hütte auf einer Insel genau gegenüber der historischen Stätte, deren heutige Bewohner eine Kolonie von Seehunden ist.

dicht an der Kante…

Wir nähern uns nun dem nordwestlichsten Teil unserer Reise. Spitsbergen liegt hinter uns und nur zwei kleine Inseln im Norden trennen uns noch vom Nordpolarmeer. Das Meer ist spiegelglatt, die Sonne steht tief und wir unterliegen der optischen Illusion, dass sich das Meer zwischen den Inseln am Horizont über den Rand einer scheibenförmigen Erde ergießt. Wir scheinen am Ende der Welt angekommen zu sein.

Nach zwei Tagen, die uns entlang eines öden Schwemmlandes aus rotem Gestein führen, wird es wieder spannend. Wir queren den 15 km breiten Woodfjord und erreichen eine Hütte auf Gråhuken, dem grauen Kap. Hier hatte die Deutsche Christiane Ritter 1930 mit ihrem Mann einen Jagdwinter verbracht und darüber in ihrem Buch „Eine Frau erlebt die Polarnacht“ berichtet. Für uns gibt es aber noch eine Besonderheit: Rolf Stange, ein befreundeter Reiseleiter, hatte vor zwei Wochen ein Depot mit unserer Gletscherausrüstung hier ausgebracht. Rund 20 kg Klettergurte, Grödel, Skistöcke, Pickel, Eisschrauben, Seile und Rucksäcke müssen nun auf die Boote verteilt werden, in deren Luken durch den verbrauchten Proviant gerade etwas Luft gekommen war.

Nachts war öfters ein „Autsch“ nach zu ausladenden Bewegungen zu hören

Eigentlich war geplant, in der geräumigen und warmen Hütte einen Ruhetag einzulegen. Leider macht uns der Wetterbericht einen Strich durch die Rechnung: Für übermorgen ist Starkwind vorhergesagt und wir wollen noch so weit es geht paddeln, bevor uns eine Zwangspause festhält.

Von nun an bewegen wir uns wieder gen Süden, paddeln den weiten Wijdefjord hinunter. Zwei junge Walrosse interessieren sich für uns – wie beim letzten Mal lagerten auch sie auf einer schmalen Landzunge. Über eine halbe Stunde folgen die Tiere unseren Kajaks und tauchen laut schnaubend immer wieder dicht daneben auf. Nervenkitzel pur. Besonders für das rote Boot von Klaus scheinen sie sich zu interessieren. Kein Wunder, später hören wir, dass trächtige Weibchen einen roten Bauch bekommen!
Auch mehrere Bären sehen wir hier. Einer passiert nachts unseren Lagerplatz, einen anderen sehen wir am Morgen im Wasser, nachdem er wenige Minuten zuvor direkt vor unserer Hütte seinen Haufen abgesetzt hat. Alle zehn Bären, denen wir begegnen, suchen stets sofort das Weite, ohne dass wir auch nur rufen oder uns sonst wie schlecht benehmen müssen.

kurzer Video Clip in eindrucksvoller See (HD!)

Ausgerechnet im südlichen, bereits etwas engeren Teil des Fjordes, den wir bei der Planung als geschütztes Revier eingeschätzt hatten, gibt es die paddeltechnisch größte Herausforderung dieser Reise: Wir starten am Morgen mit einem Fünfer von achtern, der sich dann aber bald zu dem vorhergesagten Siebener mit deutlich über 2 Meter See auswächst. Über zwei Stunden surfen wir die Wellenberge hinab, die den Blick auf meine zwei Begleiter immer wieder verbergen. Unsere schweren Prijon Kodiaks laufen dabei wunderbar ruhig und brechen nicht aus. Laut juchzend genieße ich den Ritt, aber die Begeisterung über diese Sturmfahrt ist im Team durchaus unterschiedlich verteilt. Einig sind wir uns, dass es doller nicht mehr werden muss! Hinter einem Kap finden wir eine Uferzone, die geschützt genug für eine Landung ist. Der Wind wird noch stärker, legt sich am Abend aber wieder und da der Wetterbericht ab morgen eine Winddrehung auf Süd vorhergesagt hat, setzen wir abends um 8 den Törn fort.

Auf dem Wasser sind wir nie allein, stets umgeben uns Möwen, grazile Gryllteisten, Alke, Schwärme von Nonnengänsen, Eiderenten mit ihren markanten Köpfen und torkelnde Papageientaucher, die mehr zu stürzen als zu fliegen scheinen. Pfeilschnelle Eissturmvögel fliegen auf unsere Köpfe zu und drehen wie im Spiel erst wenige Meter vor uns ab.

Nordkante des Mittag-Leffler Gletschers

Und dann liegt er vor uns, „unser“ Mittag-Leffler Gletscher, mit seiner 3 km breiten und 20 Meter hohen senkrechten Abbruchkante.

Die ist natürlich für uns unüberwindlich. Wir wissen aber, dass sie am westlichen Rand in eine flache Rampe übergeht, auf der wir hoffen, aufsteigen zu können.

Die Overgangshytta lag einmal direkt an der Gletscherkante. Heute ist sie mehr als einen Kilometer weit davon entfernt, so weit hat sich der Gletscher zurückgezogen.

Overgangs Hytta. letzte Vorbereitungen für den Gletscher

Wir wettern hier noch zwei Sturmtage ab und unser Zaubersmut Karsten improvisiert dabei einen perfekten gedeckten Apelkuchen AUF DEM KOCHER! Durch das vom Sturm zusammen geschobene dichte Treibeis paddeln wir dann zum Gletscher.

Damit beginnt der zweite Teil dieser kombinierten Tour. Die ersten Höhenmeter sind flach und glücklicherweise gibt es kaum Geröll, wie wir es zuvor auf anderen Gletschern vorgefunden haben. Bald jedoch wird das Eis sehr zerfurcht. Der Schnee, der die Schmelzwasserrinnen bis ins Frühjahr verdeckt hat, ist auf dieser Höhe im Sommer geschmolzen. Es gilt nun, einen Blick für „Straßen“ zu entwickeln. So nennen wir Kraft sparende Routen, die möglichst nur die Böden der Gräben verbinden und trotzdem noch halbwegs in die richtige Richtung verlaufen.

Immer klappt das natürlich nicht. Oft müssen wir die Boote, die wir mit verstärkten Schleppleinengurten ziehen, über steile Rampen wuchten. Oben krachen sie dann mit dem Bug aufs Eis oder rutschen schwungvoll seitlich gegen Eiskanten. Wir sind froh über unsere Bootswahl, die sich jetzt als goldrichtig herausstellt: Ein GFK Boot wäre hier in kürzester Zeit nur noch Schrott, aber die robusten Kodiaks bekommen höchsten einmal einen Kratzer, wenn wir sie doch mal über ein Steinchen ziehen.

Spalten und Senken überwinden wir „mit Schwung“

Die ersten Kilometer liegen bald hinter uns und mit der Zeit wächst die Routine. Mit Grödeln unter den Bergstiefeln überspringen wir auch größere Spalten ohne zu zögern und ziehen dann das Boot an langer Leine im Sprint hinterher. Solange das Eis relativ eben ist, spüren wir die Kajaks hinter uns kaum. Bei der Passage einer breiten Spalte über eine Eisbrücke sichern wir uns mit Eisschrauben und Seilen ab.

das Kajak gibt die Richtung vor!

Dann jedoch kommt eine steilere Zone mit tieferen Gräben und wir kommen nur noch sehr langsam und unter größten Anstrengungen voran. Bei diesem Tempo, rechne ich aus, würden wir wohl vier anstelle der geplanten zwei Tage benötigen. Doch auch dies geht vorbei und am Ende des Tages sind wir genau dort, wo wir hinwollten: Am Fuße eines Nunataks, also eines Berges mitten im Gletscher. Vom Gipfel erkunden wir die morgige Route und schauen hinab auf unser rotes Zelt auf dem Gletscher mit den Kajaks davor, die hier so völlig deplaziert wirken.

Am zweiten Tag fädeln wir uns entlang der ausgekundschafteten Route an den breitesten Spalten vorbei. Irgendwann beginnt das Eis, sich immer stärker zu neigen, bis es endlich so steil ist, dass wir die Boote, die nun vor uns her laufen, nicht mehr ziehen, sondern ordentlich bremsen müssen. Im Tal läuft der Gletscher in einen See aus und an dessen Ufer stehen an diesem Abend drei breit grinsende und mächtig stolze Paddler, die sich über einen Plan freuen, der – bis auf den Ausfall von Markus – wie am Schnürchen geklappt hat.

bei den letzten 5 km bis zur See hilft Karstens alte Fjällräven Gyro-Kraxe

Bis zum Meer müssen wir die Kajaks nun doch noch ein Stückchen tragen, aber es sind nur gut 4 km, auf denen wir die leeren Kodiaks einfach quer auf eine Kraxe schnallen.

Den Wiedereintritt in die Zivilisation feiern wir einen Tag später dann mit einem Glas Wodka in der aufgegebenen russischen Bergwerkssiedlung Pyramiden, die nur noch eine Tagesreise von Longyearbyen entfernt ist.

Nachsatz: Markus hatte zuhause noch drei Wochen mit der Infektion zu tun und verlor dabei 7kg. Von Prijon wurden wir nicht gesponsert, die Boote haben wir gekauft.

Longyearbyen, stolze Paddler zurück am Startpunkt

 

Für noch mehr Infos und Fotos, hier der Blog unserer Tour: https://seaandiceblog.wordpress.com/

(Fotos von Steffen Wagner, Karsten Hübener, Markus Ziebell und Klaus Weyhing)